
Manche Dinge geraten in Vergessenheit – ein alter Schlüssel, ein verstaubter Ordner, ein längst abgelaufener Vertrag. Doch was passiert, wenn es sich nicht um Gegenstände, sondern um Bankkonten mit echtem Geld handelt? Und was, wenn diese Konten plötzlich politisch relevant werden? Die Antwort darauf liegt nicht in den Händen der Besitzer – sondern vielleicht bald beim Staat.
Ein neues Vorhaben der Bundesregierung sorgt für Aufmerksamkeit. Es geht um etwas, das niemand vermisst, aber dennoch Milliarden wert ist. Wer sich für Finanzen, Eigentumsrechte und staatliche Eingriffe interessiert, sollte genauer hinsehen. Denn in einer Zeit, in der soziale Investitionen gesucht werden, scheint selbst das Unsichtbare wieder sichtbar zu werden – mit Konsequenzen.
1. Wenn Konten schlafen – und keiner hinschaut

Es gibt sie tatsächlich: Bankkonten, die seit Jahren niemand mehr nutzt. Keine Abbuchung, keine Einzahlung, kein Login. Diese „nachrichtenlosen Konten“ existieren im Verborgenen – und mit ihnen beträchtliche Summen Geld. Oft stammen sie von Verstorbenen ohne bekannte Erben. Manchmal liegen sie einfach deshalb brach, weil der Eigentümer verzogen, vergessen oder verschollen ist.
Solche Konten fristen ein stilles Dasein. Banken führen sie weiter – doch sie informieren niemanden aktiv. Und solange kein Zugriff erfolgt, bleibt das Guthaben unangetastet. Ein Zustand, der auf den ersten Blick harmlos wirkt – aber plötzlich politisch aufgeladen ist. Denn wo Geld liegt, entstehen Fragen. Vor allem dann, wenn der Staat beginnt, sich für das Eigentum der Abwesenden zu interessieren.
2. Die britische Idee – als Vorbild für Berlin?

Die Pläne der Bundesregierung orientieren sich an einem Modell aus Großbritannien. Dort werden nachrichtenlose Konten nach einer Frist von 15 Jahren für soziale Zwecke umgewidmet. Milliarden, die sonst in der Buchhaltung verschwinden würden, fließen in Förderprogramme, Bildung oder Gemeinwohlprojekte. Berlin will offenbar diesem Beispiel folgen.
In Deutschland fehlen bislang klare Regeln: Weder ist gesetzlich definiert, wann ein Konto als „nachrichtenlos“ gilt, noch existiert ein zentrales Melderegister. Genau hier soll nun angesetzt werden. Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass zunächst eine gesetzliche Definition entsteht – gefolgt von einer Datenbank, die alle entsprechenden Konten erfasst. Erst dann sollen Übertragungen in einen staatlichen Fonds möglich werden.
3. Der Zugriff auf Milliarden – und warum das viele nervös macht

Was auf dem Papier sinnvoll klingt – soziales Geld aus vergessenen Quellen – sorgt in der Praxis für Unruhe. Denn die Schätzungen liegen zwischen zwei und neun Milliarden Euro, die bundesweit in vergessenen Konten schlummern. Eine gigantische Summe, die viele Fragen zur Eigentumslage aufwirft. Wem gehört dieses Geld wirklich?
Die zentrale Sorge lautet: Könnte der Staat sich am Ende auch Geld holen, das noch lebenden Personen gehört – nur weil diese seit Jahren nichts unternommen haben? Besonders in einer älter werdenden Gesellschaft, in der Menschen umziehen, sterben oder ihre Bankdaten verlieren, ist die Grenze zwischen „vergessen“ und „verloren“ oft schwer zu ziehen. Genau deshalb regt sich Kritik.
4. Eigentum oder Enteignung? Die Kritik der Banken

Der Deutsche Bankenverband hat sich deutlich positioniert: Die Pläne der Bundesregierung seien rechtlich problematisch und potenziell verfassungswidrig. Insbesondere der Chefjustiziar Thorsten Höche warnt vor einem Eingriff in Eigentumsrechte. Es gebe bislang keine Frist, ab wann ein Konto als tatsächlich herrenlos gelten könne.
Außerdem, so die Kritik, könne der Staat im schlimmsten Fall Geld abziehen, das Menschen schlichtweg lange nicht bewegt haben – etwa weil es als Notgroschen dient oder schlicht vergessen wurde. Die Banken sehen sich dabei in einer Zwickmühle: Einerseits wollen sie rechtssicher handeln, andererseits stehen sie unter Druck, wenn der Staat ihre Bestände als Reservefonds ansieht.
5. Wer erbt, wenn keiner erbt? Das aktuelle Gesetz

Tatsächlich existieren im deutschen Recht bereits klare Regeln für den Fall erbenloser Vermögen. Stirbt jemand ohne Angehörige, geht das Geld an das jeweilige Bundesland, wo der Verstorbene zuletzt wohnte. Ist das nicht feststellbar, erbt der Bund. Diese Regeln greifen aber nur, wenn Gerichte tatsächlich keine Erben ausfindig machen können.
Doch auch hier gilt: Die Erbansprüche des Staates verjähren nach 30 Jahren. Und wenn der Staat sein Recht nicht aktiv durchsetzt, bleibt das Geld bei der Bank. Diese Regelung existiert unabhängig von nachrichtenlosen Konten. Doch der neue Gesetzentwurf greift vor dieser 30-Jahre-Marke – und genau das ist es, was rechtliche Reibung erzeugt.
6. Wann ist ein Konto „vergessen“? Die Grauzone bleibt

Einer der Knackpunkte in der Debatte ist die Frage nach der Frist: Ab wann gilt ein Konto als offiziell „nachrichtenlos“? In Großbritannien sind es 15 Jahre – doch in Deutschland existiert bislang keine gesetzlich definierte Dauer. Und genau diese Lücke führt zu Unsicherheit bei Banken und Kritikern.
Was tun mit einem Konto, das seit 18 Jahren ruhte – dessen Besitzer aber noch lebt und plötzlich zurückkehrt? Rechtssicherheit fehlt, ebenso wie eine klare juristische Abgrenzung zwischen Untätigkeit und Besitzaufgabe. Ein Missverständnis oder eine Adressänderung kann heute schon dazu führen, dass ein Konto als inaktiv eingestuft wird, obwohl der Anspruch nie verfallen ist.
7. Der soziale Zweck – reicht das als Begründung?

Die Bundesregierung betont in ihrer Argumentation vor allem den Gemeinwohlaspekt. Geld, das „niemandem gehört“, solle nicht bei Banken versickern, sondern in Projekte mit gesellschaftlichem Nutzen fließen. Bildungsförderung, Infrastruktur oder soziale Gerechtigkeit – das geplante Gesetz will unsichtbare Milliarden sichtbar machen, um sie dort einzusetzen, wo sie dringend gebraucht werden.
Doch diese moralische Begründung ist nicht unumstritten. Kritiker fragen: Wie moralisch ist ein Zugriff, wenn die Eigentumsfrage ungeklärt bleibt? Und was passiert, wenn ein solcher Mechanismus Schule macht – etwa bei anderen Vermögensformen? Auch wenn der Zweck gut erscheint, bleibt die Frage offen, ob er das Mittel rechtfertigt. Denn Eigentum ist in Deutschland grundrechtlich geschützt – und dieser Schutz darf nicht aus pragmatischen Gründen aufgeweicht werden. Die Debatte wird deshalb zunehmend prinzipiell geführt.
8. Zwischen Kontrolle und Vertrauen – was nun kommen könnte

Derzeit ist vieles noch unklar: Wie lang wird die Frist? Wer überwacht die Definition? Wie wird der Fonds verwaltet? Die Regierung kündigt an, einen gesetzlichen Rahmen mit Sorgfalt zu erarbeiten, doch die Vorbereitungen stehen erst am Anfang. Die Banken fordern klare, rechtssichere Abläufe, bevor überhaupt über Zugriff gesprochen wird.
Was bleibt, ist ein Zielkonflikt zwischen staatlichem Anspruch auf Gemeinwohlfinanzierung und individueller Verfügungsgewalt über Vermögen – selbst dann, wenn niemand es scheinbar beansprucht. Das Vorhaben ist ehrgeizig – aber auch heikel. Ob es gelingt, Rechtssicherheit, Vertrauen und Gemeinwohl in Einklang zu bringen, wird sich erst zeigen, wenn das Gesetz steht.